Das Abitur – noch Gradmesser für Studierfähigkeit?

Am 05. März 2019 erreichte uns eine Presseanfrage des Landtagskorrespondenten der Frankfurter Rundschau zur „Qualität des Abiturs“. Er bezieht sich auf folgende Passage im Schwarz-Grünen Koalitionsvertrag: „Wir wollen das Abitur hinsichtlich seiner Qualität weiter stärken. Es muss nach wie vor der verlässliche Gradmesser für die Studierfähigkeit der Schülerinnen und Schüler sein. Dazu werden wir qualitätssteigernde Maßnahmen in Zusammenarbeit mit Experten umsetzen.“

Die konkrete Fragestellung des Korrespondenten hierzu lautete: „In der Öffentlichkeit werden immer wieder Zweifel geäußert, ob das Abitur noch ein „verlässlicher Gradmesser für die Studierfähigkeit“ ist, etwa was die Fähigkeiten der Absolventen in der Rechtschreibung angeht. Bestehen solche Zweifel auch aus Sicht Ihrer Fraktion? Welche Schritte wären aus Sicht Ihrer Fraktion erforderlich?“ Nachfolgend meine Antwort vom gleichen Tag auf die aus bildungspolitischer Sicht sehr interessante Fragestellung:

Sehr geehrter Herr,

gern übermittle ich Ihnen als bildungs- und kulturpolitischer Sprecher der AfD-Fraktion im Hessischen Landtag meine Einschätzung zu Ihrer Frage, ob das Abitur noch ein „verlässlicher Gradmesser für die Studierfähigkeit“ sei. Zudem möchte ich darlegen, welche Schritte aus Sicht unserer Fraktion nötig wären, um die Qualität des Abiturs wieder zu gewährleisten. In meiner Analyse berufe ich mich auf die Facultas in vier Unterrichtsfächern sowie auf langjährige berufliche Erfahrungen an Grund- und Hauptschulen, an Gesamtschulen sowie auf eine 25jährige Unterrichtstätigkeit am Gymnasium (bis zum Jahr 2014), darüber hinaus auf langjährige Erfahrungen in der Ausbildung von Lehramtsstudenten sowohl an Universität wie am Studienseminar.

Zur ersten Frage: Die Koalitionspartner haben in ihrem Koalitionsvertrag immerhin die offenkundige Misere des gegenwärtigen Bildungsabschlusses „Abitur“ erkannt, wenngleich sie daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen ziemlich weit entfernt scheinen. Es geht nicht darum, die Qualität des Abiturs „weiter zu stärken“ wie es im Koalitionsvertrag heißt, sondern richtigerweise hätte es heißen müssen, dass man die Leistungsanforderungen im Gymnasium in den Jahrgangsstufen 5 -10, aber insbesondere in der gymnasialen Oberstufe, mithin in den Jahrgangsstufen 11, 12 und 13, wirksam anheben müsse, damit das Abitur wie früher eine „Reifeprüfung“ darstellt und eben nicht nur als „Hochschulzugangsberechtigung“ ausgewiesen wird.

Die Koalitionspartner sind sich offenbar einig, dass das Abitur „weiter gestärkt“ werden müsse. Ich erkenne daran, dass das gegenwärtige Abitur „schwach“ ist, sonst müsste man es nicht stärken. Nur will man es bei Schwarz-Grün so genau nicht nennen. Es liegt doch selbst für Außenstehende auf der Hand, dass das gegenwärtige Abitur seine frühere Stärke in großen Teilen längst eingebüßt hat. Dazu braucht man nur einen Blick auf 38% Erststudenten zu werfen, die ihr Studium abbrechen. Das tun sie nicht, weil es ihnen nicht gefällt, sondern weil ihnen die notwendigen Kenntnisse und Wissen fehlen, um ihr Erststudium erfolgreich abzuschließen. Von den vielen Klagen der Hochschullehrer noch abgesehen, dass eine sehr große Zahl an Studenten keine fehlerfreien Seminararbeiten, gar anspruchsvollere Examensarbeiten abliefern können. Deutsch, so wird dort nicht selten geklagt, sei offenbar eine Fremdsprache. Daran wird mehr als deutlich: eine „Hochschulzugangsberechtigung“ garantiert noch lange keinen erfolgreichen Studienabschluss. Eigentlich müssten im Kultusministerium angesichts dieser Fehlentwicklungen die Alarmglocken läuten.

Zudem hätte es im Koalitionsvertrag heißen müssen, dass gleichzeitig auch die Qualität der Lehrerausbildung unbedingt einer qualitativen Anhebung unterzogen werden müsse, schließlich, so einfach können Lösungen sein: gute Schulen sind ohne gute Lehrer nicht denkbar, und Schüler brauchen gute Lehrer, um gut zu werden. Werfen wir im Zusammenhang mit dem Abitur zunächst einen Blick auf die Empfehlungen der Grundschulen für eine weiterführende Schule. Der Elternwille ist letztlich maßgeblich für die Anmeldungen ihrer Kinder für weiterführende Schulformen. Dabei werden sehr oft, viel zu oft, die Empfehlungen der Grundschullehrkräfte missachtet. Eltern leistungsschwacher Kinder wollen, was durchaus verständlich ist, für ihre Kinder den höchstmöglichen Bildungsabschluss, das ist nun einmal das Abitur. Infolgedessen werden an Gymnasien inzwischen weit über 60% aller Schüler angemeldet, unabhängig davon, ob sie die notwendigen Voraussetzungen erfüllen oder nicht. In den 5. Klassen des Gymnasiums gibt es etwa 20 % Schüler, die keine Gymnasialempfehlung aufweisen. Was tut man? Damit es keine Steigerung der Nichtversetzungen gibt, senkt man die Standards.

Hierin liegen erste fehlgeleitete Schritte, die darüber hinaus nicht selten zu kleineren oder größeren Tragödien bei nicht wenigen schwachen Schülern führen. Denn im Gymnasium zählt die 5. und 6. Jahrgangsstufe als pädagogische Einheit, im Klartext: hier gibt es keine Nichtversetzung. Das Verhängnis nimmt für Lernschwächere seinen Lauf, wenn im 7. Jahrgang eine zweite Fremdsprache hinzukommt. Als „worst case“ entsteht dabei eine gescheiterte Bildungsbiographie – ohne (nicht einmal) einen Hauptschulabschluss, weil die Vollzeitschulpflicht bei anschließender Nichtversetzung auch in anderen Schulformen bereits erfüllt ist.

Die Qualität des Abiturs leidet seit mehreren Jahrzehnten daran, dass nach und nach die Versetzungsbestimmungen an Gymnasien sich mehr nach pädagogischen denn als nach leistungsorientierten Kriterien ausrichtete. Zudem: Mangelhafte Schülerleistungen, ob im Unterrichtsfach Deutsch, Mathematik oder anderen Hauptfächern, können allein schon durch befriedigende Leistungen etwa in Fächern wie Sport oder Religion ausgeglichen werden. Früher benötigte man dazu mindestens drei Nebenfächer mit „guten“ Leistungen. Früher wurde ein Schüler mit einer mangelhaften Zeugnisnote im Fach Deutsch überhaupt nicht versetzt, da konnte er noch so viel „Ausgleich“ in anderen Fächern haben.

Ich spreche aus der Praxis: Wie oft sind Lehrer am Gymnasium bereit, selbst nicht ausreichende Leistungen als „gerade noch ausreichend“ zu bewerten, weil sich der Schüler „trotz der Mängel doch bemüht habe“. Soll es doch der Lehrer in der nächst höheren Klassenstufe richten. Törichterweise richtet sich die Beliebtheit eines Lehrers längst nicht mehr danach, was er fachlich kann und „draufhat“, sondern danach, ob er mit Wohlfühlpädagogik diejenigen stillhalten kann, die ihn sonst vielleicht als „Unmenschen“, als „Unbarmherzigen“ diskreditieren. Gerade die Gymnasien sind kein Ponyhof.

Die Gymnasien freuen sich aber insgesamt über den weiter zunehmenden Zuspruch aus den Grundschulen, geht es doch bei ihnen um ihren Bestand bzw. um die Lehrerzuweisung durch das Kultusministerium. Nichts ist schlimmer, als wenn Schulleitungen eines Gymnasiums sich gezwungen sehen, Studienräten eine Versetzung, etwa an eine Gesamtschule, anzutragen, wenn die Anmeldezahlen zum Gymnasium nicht dem Bestandserhalt ihrer Lehrerschaft entsprechen. Es ist übrigens bezeichnend für den Niedergang des Gymnasiums, dass sehr viele Gymnasien in Glanzbroschüren dafür werben, ihr Gymnasium sei eine „lernorientierte“ Schule. Es ist ein Eingeständnis, dass an Schulen, die sich so etikettieren, nicht mehr richtig gelernt wird, dass primär Wissen und Kenntnisse nicht im nötigen Umfang vermittelt werden. Diese Zustände können unumwunden für das innere Versagen der Gymnasien selbst stehen.

Um das Leistungsniveau an Gymnasien anzuheben, brauchte man keineswegs, wie es im Koalitionsvertrag heißt, „qualitätsteigernde Maßnahmen in Zusammenarbeit mit Experten“. Wer immer diese „Experten“ auch sein mögen, das Kultusministerium müsste zunächst einmal vor der eigenen Haustür kehren. Schließlich hat man den Niedergang des Abiturs im Kultusministerium zu verantworten, denn seit Jahrzehnten sind – wie bereits oben bemerkt – nach und nach z.B. Versetzungsbestimmungen nach unten geschraubt worden.

Vor Beendigung der Jahrgangsstufe 10, mithin bei Versetzung in die Jahrgangsstufe 11, die dem Mittleren Bildungsabschluss („Mittlere Reife“) entspricht, gibt es gerade für schwache Schüler viel zu wenig Aufklärung und Empfehlungen für z.B. eine berufliche Ausbildung. Auch hier bilden Eltern wie Lehrer ein unzertrennliches Duo: das Abitur wird als „Königsweg“ angesehen. Nur das zählt, anderes nicht. Dass es ein erfolgreiches duales Bildungssystem gibt, worum uns die Welt beneidet, wird weit von sich geschoben. Bereits in der Jahrgangsstufe 11 kann man erkennen, dass mindestens ein Drittel der Schüler – wenn überhaupt –nur ein sehr schwaches Abitur wird schaffen können.

In der Orientierungsstufe, d.h. in der Jahrgangsstufe 11 werden von sehr vielen Schülern – wenn sie in die Jahrgangsstufe 12 versetzt werden, als Leistungsfächer diejenigen gewählt, bei denen sie wissen, dass man ohne viele Vorkenntnisse und begleitet von geringem Anspruchsniveau das Abitur „irgendwie“ schafft. Aus diesem Grund gibt es viel zu wenige Schüler, die als Leistungsfächer naturwissenschaftliche oder mathematische Fächer wählen.

Begünstigt werden schwache Abiturleistungen auch dadurch, dass es bei den Klausurkorrekturen in allen drei Jahrgangsstufen bis zum Abitur keinerlei Austausch mit anderen Grund- oder Leistungskursen gibt, so dass Schülerleistungen objektiver beurteilt werden könnten, und, dass es möglichst für alle Schüler gleiche Leistungsanforderungen im Schriftlichen geben müsste. Jeder Lehrer entwirft seine eigenen Klausuren. Einschlägige Erfahrungen zeigen, wie weit Leistungsanforderungen hierbei auseinander liegen können. Auf einen einfachen Nenner gebracht: bei dem einen Lehrer muss man nichts können und auch nichts „groß tun“, beim anderen ist das Gegenteil der Fall. Letztere Lehrer sind jedoch allgemein unbeliebt. Dabei müsste es gerade andersherum sein.

Zu bemängeln ist, dass die mündlichen Leistungen, auch beim Abitur, einen überzogenen Einfluss auf die Abiturnoten haben. Ganz abgesehen davon, dass mündliche Leistungen viel schwerer evaluierbar sind. Schriftliche Abituraufgaben werden inzwischen zwar zentral gestellt, aber was haben die geradezu inflationären 1,0 Abiturnoten für eine andere Aussagekraft als diese, dass die Anforderungen permanent gesunken sind. Zumal unter der prüfenden Lehrerschaft offen eingestanden wird, dass die Zentralabitursaufgaben allgemein viel leichter zu schaffen sind als die früher selbst gestellten. Vielleicht noch eine ernüchternde Zahl: Noch vor 10 Jahren hatte in Deutschland noch nicht einmal jeder 100. Abiturient einen Notenschnitt von 1,0. Im Jahr 2014 waren es schon 50% mehr als 2006, die die Bestnoten erhielten. Allein in Berlin – wahrlich kein Ort herausragender Bildung – hat sich die Zahl der 1,0 Abiturienten innerhalb von 10 Jahren vervierzehnfacht. Was im Ländervergleich besonders schwer wiegt ist, dass es damit zu irrsinnigen Ungerechtigkeiten bei Schülern mit Abiturzeugnis kommt, die sie in anderen Bundesländern erwarben. Eine Chancengleichheit wird hier besonders deutlich ad absurdum geführt.

Zur zweiten Frage: Die Qualität des Abiturs kann nur dann wiederhergestellt werden, wenn in allen Schulformen und Jahrgangsstufen die Leistungsanforderungen angehoben werden. Und zwar deutlich. Hierzu sind andere als die gültigen Versetzungsbestimmungen neu durch das Kultusministerium per Erlass zu beschließen. Denkbar sind, wie das früher der Fall war, einwöchige Aufnahmeprüfungen für die Gymnasien, die den Eltern eine vernünftige, unabhängige Orientierung über die schulischen Leistungen ihrer Kinder geben, sofern es keine Gymnasialempfehlung gibt. Aus Gründen der Gleichbehandlung sollte diese einwöchige schriftliche und mündliche Prüfungswoche allerdings für alle Schüler nach der Grundschule gelten.

Damit würde klar signalisiert, dass es wieder um Leistungen und Eignung geht. Das erscheint bei linksgerichteten Lehrern und Lehrergewerkschaften verpönt. Erstere, so meine Erfahrungen, nehmen es mit der Vermittlung von Wissen und Kenntnissen nicht ganz so genau. Schließlich gibt es auch Untersuchungen, dass z.B. Lehrern in Mathematik der Sek. I gar Kenntnisse fehlen, um Nichtstandardaufgaben fehlerfrei zu lösen. Dieser Befund zwingt dazu, auch das Anforderungsniveau an Hochschulen und Studienseminaren deutlich und dringend anzuheben. Schwach ausgebildete Lehrer stellen keine guten Aussichten für guten Unterricht dar. Last but not least: es muss verpflichtende Fortbildung für alle Lehrer geben. Kultusminister Lorz ließ einmal verlautbaren, man könne die Lehrerschaft nicht zur Fortbildung verpflichten. Wir meinen, dass das sehr wohl der Fall sein muss. Es kann nicht angehen, dass es Lehrer gibt, die bis zur Pensionierung nicht an einer einzigen Fortbildung teilnehmen.

Zu guter Letzt: Das größte Problem im gegenwärtigen Zustand an unseren Gymnasien, die als Bildungsgang das Abitur anbieten, ist die Unehrlichkeit von Kultusministerium, Schulaufsicht, Schulleitungen, Lehrern und Eltern. Sie führt zum Niedergang des Abiturs. Würden sich die Beteiligten auf einen ehrlichen Austausch über das tatsächliche Leistungsvermögen der zu unterrichtenden Schüler zurückbesinnen, dann gäbe es die Hoffnung, dass das Abitur wieder etwas wert ist. Wenn es so weitergeht wie bisher, dann wird zum Schluss zwar bald jeder Abitur haben, damit hat aber auch keiner mehr das Abitur. Vielleicht ist das das Ziel herrschender Bildungspolitik. Es ist jedoch nicht das Ziel der AfD-Fraktion. Wir werden in der 20. Wahlperiode versuchen, dass sich die Bildungspolitik in Hessen wieder analog zu den oben gemachten Anmerkungen eines Besseren belehrt. Zum Wohl und für eine erfolgreiche Zukunft der heranwachsenden Generationen.

Mit freundlichen Grüßen

Rolf Kahnt

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